Das Gewicht der Leere - Kapitel 2


Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere - Kapitel 2

Nun gab es kein Zurück mehr! Franka lehnte sich in dem bequemen Sitz des Langstreckengleiters zurück. Diese Reise war wirklich von der ersten Minute an etwas Besonderes. Der Gleiter war mit jedem erdenklichen Luxus ausgestattet. Verstohlen musterte Franka ihre Mitreisenden. Insgesamt waren sie zu zwölft, wobei der Herr in der ersten Reihe ihr Reisebegleiter zu sein schien. Ob die restlichen neun der insgesamt zwanzig Gewinner abgesagt hatten? Oder flogen sie mit einem anderen Gleiter? Jedenfalls waren die elf Passagiere an Bord allesamt Deutsche, wie an den gelegentlichen Äußerungen zu hören war. Noch war die Stimmung etwas gedämpft, da sich die Anwesenden nicht kannten. Der Aufregung konnte also nicht durch angeregte Gespräche Luft gemacht werden, wie das bei einer Urlaubsreise mit Freunden oder Familienangehörigen üblich ist. Eine Flugbegleiterin und ein Flugbegleiter kümmerten sich um das leibliche Wohl der Fluggäste.
Victor hatte recht gehabt: In den zurückliegenden zwölf Wochen hatte sich Franka tatsächlich nach und nach an den Gedanken gewöhnt, und nun freute sie sich sogar auf die Reise. Der Abschied von ihrer Familie war halb so schlimm gewesen. Es waren schließlich nur vierzehn Tage! Die Mädchen waren bei Victor bestens aufgehoben. Es war schön, so unbeschwert reisen zu können. Auch die bevorzugte Behandlung tat gut. Nun verstand sie endlich den Inhalt der Abkürzung VIP! Franka überließ sich ganz der Vorfreude. Ob sie sich mit einer oder einem ihrer Mitreisenden anfreunden würde? Eine Frau, zwei Sitze vor ihr, war ihr sofort aufgefallen. Sie musste ungefähr in ihrem Alter sein und hatte ein interessantes Gesicht.
Das Fluggerät startete ohne Verzögerung. Auch dies war ein Zeichen äußerst privilegierten Reisens. Als die Maschine ihre Flughöhe erreicht und sich die Anschnallgurte gelöst hatten, erhob sich der Herr aus der ersten Reihe.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf Sie im Namen von Futura 3000 herzlich willkommen heißen! Mein Name ist Johannes Kaufmann, ich bin für den heutigen Tag Ihr Reisebegleiter. Sie alle sind auf etwas andere Weise in dieses luxuriöse Transportmittel gelangt als die Gäste, die ich sonst immer begrüße. Sie wissen ja, dass normalerweise nur sehr betuchte Leute meine Passagiere sein können. Und ich verrate sicherlich kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass genau das zuweilen ziemlich anstrengend ist.«
Die meisten lachten oder schmunzelten zumindest.
»Das soll aber nicht heißen, dass wir nun bei Ihnen an irgendetwas gespart hätten. Sie werden in den vollen Genuss all dessen kommen, was Futura 3000 zu bieten hat. Schließlich haben Sie diese Reise von Fortuna persönlich erhalten, und wir werden uns hüten, es uns mit der Glücksgöttin zu verderben.«
Auch dieser kleine Scherz wurde mit höflichem Gelächter honoriert.
»Nun werde ich Ihnen etwas über den Ablauf Ihres ersten Reiseabschnittes sagen: Die Flugzeit nach Algier beträgt knapp zwei Stunden. Es wird Ihnen währenddessen an nichts fehlen, was Sie sicher schon bemerkt haben, wenn Sie die ausliegenden Speise- und Getränkekarten studiert haben. In den Sitzlehnen sind Bildschirme integriert, Sie haben Zugriff auf 2.000 verschiedene Filme und 5.000 verschiedene Titel aller denkbaren Musikrichtungen. Falls Sie mit der Bedienung der Geräte nicht zurechtkommen, helfen unsere beiden Flugbegleiter Monika und Henning und natürlich auch ich Ihnen gerne. Eine Kurzanleitung finden Sie in dem kleinen Fach unter Ihrem Sitz.
In Algier steigen wir in Mittelstreckengleiter um, die uns nach Tamanrasset bringen. Da diese Stadt direkt am Ahaggar-Bergmassiv liegt, ist sie nur mit diesen kleineren Fluggeräten zu erreichen. Zumindest, wenn man Wert auf eine gewisse Bequemlichkeit legt, und das tun wir doch alle, nicht wahr?«
Johannes Kaufmann blickte in die Runde seiner Schützlinge und sah allenthalben zustimmendes Nicken.
»Von Tamanrasset aus beginnt das große Abenteuer: Wir werden in echte antike Jeeps umsteigen, die uns auf das Futura-Gelände bringen, da über dem gesamten Gebiet absolutes Flugverbot herrscht. Ich kann Ihnen aber versichern, wir verfügen dort über andere Transportmittel!« Er lächelte geheimnisvoll. »Sobald wir an unserem Ziel angekommen sind, teile ich Ihnen noch Ihre Quartiere für die erste Nacht zu, dann trennen sich unsere Wege wieder: Ein Kollege wird meine Aufgabe übernehmen. Monika und Henning servieren Ihnen nun eine Mahlzeit. Falls Sie an mich Fragen haben, drücken Sie auf dem kleinen Tastenfeld, das in Ihre Armstütze eingelassen ist, die 10, ich komme dann unverzüglich zu Ihnen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, eine unvergessliche Reise – und jetzt erst einmal guten Appetit!«
Unter dem höflichen Applaus der Gäste setzte sich Johannes Kaufmann wieder auf seinen Platz, um kurz darauf wieder aufzustehen, da ihn einer der Reisenden gerufen hatte. Franka blätterte in der Speisekarte und entschied sich für einen der köstlich aussehenden Salate. Sie hielt nichts von schweren Mahlzeiten während einer längeren Reise. Der Sitz neben ihr war frei. Da ihnen beim Einsteigen keine Plätze zugewiesen worden waren, hatte sich jeder in einer freien Reihe niedergelassen. Doch plötzlich kam die Frau auf sie zu, die ihr schon zu Anfang aufgefallen war. Sie streckte Franka die Hand entgegen.
»Ich heiße Maria Gerber. Darf ich mich zu Ihnen setzen? Wenn wir schon die nächsten vierzehn Tage zusammen verbringen, können wir uns genauso gut gleich miteinander bekannt machen.«
Franka ergriff die dargebotene Hand.
»Franka Reinhardt. Natürlich, gerne! Setzen Sie sich! Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Maria Gerber ließ sich neben Franka auf den Sitz fallen. Johannes Kaufmann war ihr mit seinen Blicken gefolgt. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob er Einspruch gegen Maria Gerbers Platzwechsel erheben wollte. Dann überlegte er es sich aber offensichtlich doch anders.
»Reizende Kinder haben Sie«, sagte Frankas neue Sitznachbarin. »Ich habe Sie mit Ihrer Familie in der Abflughalle gesehen. Zwillinge fallen einfach immer auf. Meine Kinder sind schon groß. Ich konnte sie nicht einmal dazu überreden, mit an den Flughafen zu kommen. Vierzehn Tage ohne Mutter, das verkraften sie mit links.«
»Wie alt sind Ihre denn?«
»Sechzehn und vierzehn. Zwei Jungs. Ihre beiden Süßen sind höchstens fünf, nicht wahr?«
»Gut geschätzt! Valerie und Philippa sind vier.«
»Da haben Sie als Mutter noch einiges vor sich, kann ich Ihnen verraten. Freuen wir uns jetzt aber erst einmal auf die nächsten vierzehn Tage. Ich bin gespannt wie ein Flitzbogen. Das Informationsmaterial war nicht besonders aufschlussreich. Bilder, auf denen nichts zu erkennen war, und nichtssagende Sätze darunter.«
»Stimmt! Das ist mir auch aufgefallen. Ganz schön geheimnisvoll mit Futura 3000, oder? Jeder spricht davon, aber Konkretes weiß niemand. Außer denen, die schon da waren natürlich. Aber anscheinend schweigen sie eisern. Ob sie für ihr Schweigen bezahlt werden?«
»Sicher! Oder wir bekommen am Ende noch eine Gehirnwäsche, so wie bei Men in Black: ›Schauen Sie bitte alle auf die Spitze dieses Gerätes‹. Dann ein heller Lichtblitz, und wir wissen nur noch, dass es toll war, aber nicht warum.«
Franka musste lachen.
»Wenn das so ist, dann brauchen sie sich doch gar nicht die Mühe zu machen, uns etwas zu bieten. Sie können uns vierzehn Tage lang in einen Keller sperren und uns dann der Gehirnwäsche unterziehen.«
»Stimmt! Warten wir es ab. Vielleicht wird es ja so! Genießen wir den Flug umso mehr, falls er das einzig Angenehme an unserem Ausflug bleibt!«
Das Essen kam. Maria hatte auch Salat bestellt. Sie grinsten sich an. Dann begannen sie über ihre Mitreisenden herzuziehen. Es waren vier Männer und, außer ihnen selbst, fünf Frauen.
»Anscheinend haben Frauen mehr Glück.«
»Oder die Männer sind feiger. Immerhin fehlen neun.«
»Victor, mein Mann, wäre unheimlich gerne mitgekommen. Wenn es erlaubt gewesen wäre, hätte ich ihm die Reise geschenkt! Er legt mehr Wert auf Abenteuer als ich.«
»Wenn Victor der Herr ist, der Sie zum Flughafen gebracht hat, dann hätte ich auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, nun neben ihm zu sitzen. Könnten wir nicht ›du‹ zueinander sagen?«
»Doch, natürlich!«
Franka lachte über Marias Kommentar zu Victor und über ihre Direktheit.
»Jochen – das ist mein Göttergatte – wäre um nichts in der Welt für mich eingesprungen. Er setzt sich in keinen Langstreckengleiter, weder zu Luft noch zu Wasser. Unsere Urlaubsziele müssen allesamt mit Kurzgleiter erreichbar sein.«
»Ich glaube übrigens, wir sind hier so ziemlich die Ältesten. Die anderen sehen alle jünger aus. Die Frauen sind bestimmt noch unter dreißig, und die Männer«, Franka sah sich nochmals prüfend um, »höchstens fünfunddreißig. Der dort ganz vorne ist sicher erst Anfang zwanzig.«
»Wie alt bist du denn? Ich habe dich auch für unter dreißig gehalten.«
»Neununddreißig.«
»Alle Achtung! Da hast du dich aber gut gehalten! Ich bin nur ein Jahr älter als du, aber ich wette, die meisten würden mich für zehn Jahre älter halten.«
»Ich habe dich auf fünfunddreißig geschätzt.«
»Danke! Das tut gut. Aber du hast recht. Die anderen hier sind alle jünger. Sonderbarer Zufall. Eigentlich müssten doch auch alte Leute dabei sein, oder?«
»Vielleicht waren ja Senioren unter den Gewinnern, aber sie haben sich die Reise nicht zugetraut. Wie du vorhin schon sagtest, fehlen ja neun.«
»Naja, bei richtig alten Menschen könnte ich mir das vorstellen – aber was ist mit den Fünfzig- bis Siebzigjährigen?«
»Elf Leute sind für einen repräsentativen Querschnitt etwas wenig. Ich glaube nicht, dass man daraus irgendwelche Schlüsse ziehen kann.«
»Wahrscheinlich nicht. Aber was mir außerdem auffällt: Alle hier sehen intelligent aus. Und es ist keiner dabei, den ich spontan als Unter einstufen würde.«
Da musste Franka zustimmen. Ja, auch das war etwas seltsam. Wenn es möglich gewesen wäre, sich das Geld auszahlen zu lassen, dann wäre es freilich leicht erklärbar gewesen: Menschen, deren Einkommen unterhalb des staatlich festgelegten Lebensstandards lag, hätten dieses Geld ganz sicher dazu verwendet, sich in die Mittelschicht einzukaufen. Aber das war ja eben nicht möglich gewesen. 
Der freundliche Henning räumte ihre Tabletts ab. Auch das war eine Seite der VIP­-Behandlung: Reale Menschen gab es normalerweise im Dienstleistungsbereich nur noch selten. Computerterminals oder bestenfalls Robotereinheiten hatten schon lange diese Tätigkeiten übernommen. Die Freundlichkeit dieser Beschäftigten hier an Bord wirkte natürlich und ehrlich. Das war keineswegs selbstverständlich. Denn Service durch Menschen galt als Luxus und war hochbezahlt. Und wie in allen anderen Berufen auch, stieg mit dem Einkommen die Hochnäsigkeit der Beschäftigten. Aber diese Mitarbeiter hier waren ganz offensichtlich sorgfältig ausgesucht. Zwar trugen sie eine Uniform und waren deshalb nicht anhand ihrer Kleidung einzustufen, aber ihr selbstsicheres Auftreten wies sie zweifelsfrei als Angehörige der oberen Mittelschicht aus. Damit waren sie den meisten der Reisenden ebenbürtig.
Weder Franka noch Maria hatten Lust, einen Film anzusehen oder Musik zu hören. Sie unterhielten sich lieber miteinander, sprachen darüber, wo sie herkamen, was sie beruflich machten – Maria war Lehrerin – und natürlich über die Kinder: alles interessante Themen, die ausreichend Stoff für Austausch boten. Als die Maschine zum Landeanflug auf Algier ansetzte, waren beide überrascht, wie schnell die Zeit verflogen war.
Die Mittelstreckengleiter standen schon bereit. Franka war noch nie mit einem geflogen. Die meisten der anderen Gäste anscheinend auch nicht. Als Franka die kleine Treppe zur Passagierkabine hochstieg, überkam sie plötzlich ein Gefühl der Erregung. Das Abenteuer hatte nun wirklich begonnen! Auch Marias blaue Augen leuchteten erwartungsvoll, nachdem der Mittelstreckengleiter abgehoben hatte. Es war ein völlig anderes Gefühl, den Boden plötzlich unter sich verschwinden zu sehen, ohne vorher auf einer Startbahn entlangzurasen, um die erforderliche Geschwindigkeit zu erreichen. Bei Langstreckengleitern war das immer noch nötig. Auch war das Fluggefühl nicht mit dem in Kurzstreckengleitern zu vergleichen, die sich in das öffentliche Verkehrsnetz einklinkten und sich dort mit unbeeinflussbarer Geschwindigkeit in die einprogrammierte Richtung bewegten, bis sie sich dann am Ziel wieder ausklinkten. Der Flug jedenfalls war fast zu kurz: eine knappe halbe Stunde nur. Wie vorher die Gleiter, so standen nun zuverlässig die angekündigten Jeeps bereit. Und die waren eine echte Sensation! Mit einem von Menschenhand gesteuerten, sich auf vier Rädern bewegenden Fahrzeug war noch niemand der Reisenden gefahren. Fasziniert starrten sie während der ersten Kilometer dem Fahrer auf Hände und Füße. Wie er so viele Dinge gleichzeitig tun konnte, ohne die verschiedenen Pedale und Knöpfe zu verwechseln! Aber dann nahm die Umgebung die Gruppe gefangen: Sand, soweit das Auge reichte. Die Jeeps waren oben offen, der warme Wüstenwind blies den Fahrgästen ins Gesicht und trieb ihnen Sand und Tränen in die Augen.
Drei Personen passten in ein Auto, mit dem Fahrer vier. Maria und Franka hatten es wieder geschafft, beisammen zu bleiben. Inzwischen war es spät geworden, obwohl alles so reibungslos abgelaufen war. Schnell und beinahe überraschend, wie das typisch für die Wüste ist, wurde es dunkel. Das fröhliche Geplapper der Menschen erstarb, als über ihnen ein unglaublich prachtvoller Sternenhimmel erschien. Milliarden Sterne! Der lybische Fahrer hielt das Fahrzeug an und schaltete die Scheinwerfer aus. Ehrfürchtig blickten alle nach oben. Zehn Minuten bekamen sie, um das Schauspiel zu bewundern, währenddessen verteilte der Fahrer Decken. Denn ebenso plötzlich wie die Dunkelheit war die Kälte hereingebrochen. Schließlich fuhren alle Jeeps weiter. Die Begeisterung der Reiseteilnehmer über den Sternenhimmel war für die routinierten Angestellten nichts Besonderes, der Zwischenstopp eine effektvoll eingeplante Zäsur. Und tatsächlich hielt die ehrfürchtige Stimmung an, bis sich die Gruppe ihrem eigentlichen Ziel näherte.
Irgendwie hatten sie etwas Großartiges erwartet, beispielsweise eine riesige Leuchtschrift mit Futura 3000 am Eingang. Die meterhohe kahle Mauer mit dem gigantischen, völlig schmucklosen Tor, auf die sie jetzt zurollten, wirkte hingegen ernüchternd und erinnerte an eine militärische Anlage oder an ein Gefängnis aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Und wie bei einem Gefängnis bewacht waren Mauer und Tor auch! Als die riesigen Flügel der Toranlage nach innen schwenkten, wurde die Gruppe von mehreren uniformierten Personen empfangen. Die Blicke, mit denen sie die Insassen der Fahrzeuge musterten und dann, wie sie die Papiere, die sie aus der Hand des Fahrers entgegennahmen, sorgfältig prüften, erinnerten Franka an eine Grenzkontrolle, wie man sie in alten Filmen sehen konnte. Auch die sich im Hintergrund haltenden und mit Maschinengewehren bewaffneten Wachmänner verstärkten diesen Eindruck.
Die Jeeps wurden weitergewinkt. Es war stockdunkel. Die Scheinwerfer warfen nur einen schmalen Lichtstreifen auf die karge Wüstenstraße. Nach scheinbar endloser Fahrt waren schließlich weit in der Ferne Lichter zu erkennen. Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Aus der völligen Dunkelheit rollten die Jeeps unter eine strahlend beleuchtete, riesige, unten abgeflachte hohle Kugel, so ungeheuer weit gespannt, dass die Menschen in ihren Fahrzeugen winzig wirkten. Als sich Frankas Augen an die gleißende Helligkeit gewöhnt hatten, blickte sie staunend um sich. Dies hier war wirklich futuristisch! Vor Jahren hatte sie sich in Stockholm in der gigantischen, kugelförmigen Mehrzweckhalle Globen ein Eishockeyspiel angesehen. So ähnlich wie das Gebäude in Schwedens Hauptstadt wirkte auch dieses hier, nur um ein Vielfaches größer. An den konkaven Innenwänden schlängelten sich zahlreiche Treppen nach oben und endeten an Plattformen. Von diesen wiederum führten Türen ab. Türen, die sich öffneten und, nachdem sie Leute hindurchgelassen hatten, wieder schlossen. Alle diese Menschen waren in silbergraue Overalls gekleidet, die nicht wie derbe Arbeitskluft, sondern wie die elegante Montur der Raumschiffbesatzung in einem Science-Fiction-Film wirkten. Dort, wo die Kugel ihre weiteste Ausdehnung erreichte, bevor die Wände sich langsam wieder zu einem Gewölbe schlossen, durchzog ein Gewirr von Schienen den unendlich weiten freien Raum. Von unten erinnerte das an ein gigantisches Spinnennetz. Auf diesen Schienen bewegten sich Gegenstände wie auf Schwebebahnen in rasender Geschwindigkeit ihrem vermutlich einprogrammierten Ziel entgegen. Überall in der Kugel herrschte geschäftiges Treiben. Die Luft war erfüllt vom Summen, Zischen und Klicken der Technik. Dennoch war es nicht laut. Alle Geräusche klangen gedämpft und wirkten nicht störend oder unangenehm. Die silbern gekleideten Personen schienen genau zu wissen, was sie taten und wohin sie unterwegs waren. Nur die unterschiedlichen Hautfarben ihrer Gesichter unterschieden sie voneinander.
Da die Jeeps in der Mitte der Halle angehalten hatten, war das geschäftige Treiben an den Innenwänden der Kugel weit entfernt.
»Meine Damen und Herren!«
Johannes Kaufmann klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit seiner Reisegruppe auf sich zu lenken. 
»Bitte folgen Sie mir. Ich bringe Sie nun zu Ihren Quartieren. Bleiben Sie bitte beisammen, damit niemand verloren geht. Die Türen öffnen sich nur über Netzhautscanner. Bevor Ihre Daten eingespeichert sind, müssen Sie sich an mich halten.«
Er bewegte sich zügig quer durch die Halle auf eine der Türen zu, wobei er mit seinen Erläuterungen fortfuhr.
»Nachdem Sie sich etwas eingerichtet haben, können Sie sich ein Viertelstündchen ausruhen. Sie werden dieselbe Kleidung vorfinden, die Ihnen bei den Angestellten hier sicher schon aufgefallen ist, natürlich in etwas fröhlicheren Farben. Schließlich sind Sie ja nicht zum Arbeiten hier. Ich muss Sie bitten, diese Overalls anzulegen. Sie sind zu Ihrem persönlichen Schutz notwendig. Wir befinden uns hier in einer hochtechnisierten Umgebung, für die weite Hosen, Röcke oder Stöckelschuhe nicht geeignet sind. Sie werden überrascht sein, wie unglaublich bequem und kleidsam diese Anzüge sind. Ich bin sicher, auch die Damen werden nichts gegen die hier vorherrschende Mode einzuwenden haben.«
Inzwischen hatte er eine Tür in der Kuppelwand erreicht, seine Schützlinge im Schlepptau. Die Tür öffnete sich automatisch.
»Ich dachte, die Türen öffnen sich nur, nachdem die Netzhaut des Besuchers gescannt worden ist!«
Maria hatte diese überraschte Äußerung nicht gezielt an Johannes Kaufmann gerichtet, der jedoch antwortete umgehend: »Dachten Sie, ich muss mein Gesicht an ein magisches Auge halten, dann blinken ein paar Lämpchen auf und irgendwann kommt die Meldung ›Zutritt freigegeben‹? Nein, diese veraltete Technik haben wir hier schon lange hinter uns gelassen. Die Scannung erfolgt automatisch und unmerklich. Glauben Sie mir, die Elektronik hat meine Anwesenheit bereits erkannt, bevor ich den ersten Meter auf dem Futura-Gelände zurückgelegt hatte. Und ebenso sind Sie alle als Nichtregistrierte identifiziert worden.«
»Warum dieser Aufwand? Für einen Erlebnispark scheint mir das etwas übertrieben. Es erinnert mich eher an eine militärische Anlage.«
Das kam von einem ungefähr fünfundzwanzigjährigen Mann, im Gleiter nach Algier hatte er hinter Maria und Franka gesessen.
»Dafür gibt es verschiedene Gründe«, erklärte Johannes Kaufmann. »Zum einen wollen wir natürlich verhindern, dass sich Menschen hier einschmuggeln, die schon eine Reise mit uns hinter sich haben. In Anbetracht der langen Wartelisten wäre das sehr ungerecht anderen Interessenten gegenüber. Aber natürlich dient das alles auch der Sicherheit. Sie werden hier eine futuristische Technologie kennenlernen, die leider auch ziemlich empfindlich ist. Unwissende könnten leicht großen Schaden anrichten. Drittens ist es eine Frage der Geheimhaltung. Was glauben Sie, wie gerne sich Journalisten heimlich hier umsehen würden? Ich gebe zu, diese Geheimhaltung hat rein wirtschaftliche Gründe. Je geheimnisvoller Futura 3000 sich gibt, desto größer ist das Bedürfnis, durch eine Reise hinter dieses Geheimnis zu kommen.« Johannes Kaufmann lächelte entwaffnend. »Nicht zuletzt will die Futura-Holding verständlicherweise auch an der Anlage verdienen.«
Während seiner Ausführungen hatten sie die Tür passiert und waren einem schlauchartigen Gang gefolgt. An dessen Ende wartete wieder eine Tür, durch die sie in eine Halle traten.
Unzweifelhaft handelte es sich hier um ein Hotelfoyer. Der vertraute Anblick hatte auf Franka eine beruhigende Wirkung, gemischt mit ein klein wenig Enttäuschung. Alles, was sie bis zu diesem Zeitpunkt gesehen hatten, war so fremd und sonderbar gewesen. Einerseits fühlte sie sich in der vertrauten Umgebung dieses – zugegebenermaßen sehr luxuriösen – Foyers zu Hause, andererseits waren ihre Erwartungen inzwischen so hochgeschraubt, dass diese Vertrautheit sie fast schon enttäuschte. An der Rezeption erhielt jeder Gast eine Schlüsselkarte. Auch die Hotelangestellten trugen diese besonderen Anzüge, hier in einem zarten Rot. Ansonsten unterschied sich das Personal in nichts von den Hotelangestellten im Hilton oder in irgendwelchen anderen Luxusherbergen der Oberklasse.
»Welche Nummer hast du?«
Franka und Maria verglichen ihre Karten.
»Ich habe 145.«
»Und ich 28.«
»Hoffentlich sind wir wenigstens auf dem gleichen Stockwerk.«
Marias Besorgnis war unbegründet. Als Johannes Kaufmann sie zu ihren Räumen geleitete, stellten sie fest, dass alle Zimmer auf einer Etage lagen und vom selben Flur aus erreichbar waren, auch wenn sie vollkommen willkürlich nummeriert worden zu sein schienen. Der Herr, dessen Zimmer neben Frankas lag, hatte die Nummer 89. Marias Zimmer befand sich drei Türen weiter auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Bevor sie alle in ihren Räumen verschwanden, bat ihr Begleiter noch ein letztes Mal um Aufmerksamkeit.
»Sie wundern sich vermutlich über die recht willkürlich festgelegten Zimmernummern. Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ihre Schlüsselkarte geleitet Sie sicher zu Ihrem Raum. Vielleicht haben Sie die kleine Leuchtdiode auf der Karte bemerkt. Solange sie gelb ist, befinden Sie sich auf dem richtigen Weg. Gehen Sie in die falsche Richtung, wechselt die Farbe auf Rot. Sind Sie angekommen, leuchtet die Diode grün.«
Erstaunt warf einer der Gäste ein: »Wozu das denn? Warum die Zimmer nicht einfach normal durchnummerieren?«
Herr Kaufmann lächelte nachsichtig. Es wurden doch immer die gleichen Fragen gestellt, auf die er die Antworten natürlich parat hatte. »Ganz einfach: Sobald ein Zimmer frei wird, erhält es die nächste laufende Nummer und die Schlüsselkarte wird entsprechend programmiert. Das ist für die Verwaltung einfacher. Es mag Ihnen etwas ungewohnt erscheinen, aber Stockwerke gibt es hier sowieso nicht. Sie werden sich sehr schnell eingewöhnen und feststellen, dass Sie Ihr Zimmer leichter finden werden als in einem großen Hotel mit zahlreichen, genau gleich aussehenden Fluren.«
Ein paar der Anwesenden, die schon Erfahrungen in großen Hotels gesammelt hatten, nickten bestätigend.
»Ich möchte mich hier von Ihnen verabschieden. In einer halben Stunde wird im Speisesaal das Dinner serviert. Der Speisesaal befindet sich rechts von der Rezeption. Drücken Sie einfach auf Ihrer Zimmerkarte auf ›Speisesaal‹, dann zeigt Ihnen die Leuchtdiode den Weg. Dort wird mein amerikanischer Kollege, Herr Winston, Ihre Betreuung übernehmen. Ich hoffe, Sie waren mit dem bisherigen Verlauf Ihrer Reise zufrieden. Ich bedanke mich bei Ihnen und wünsche Ihnen einen angenehmen und unvergesslichen Aufenthalt.«
Formell reichte Johannes Kaufmann jedem Gast die Hand und sprach ihn dabei erstaunlicherweise völlig korrekt mit Namen an. Dann war er verschwunden.



 

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