»Was tut ihr da?!«
Frankas scharfe Worte hatten auf ihre beiden kleinen Töchter völlig unterschiedliche Wirkung: Valerie sah sich sofort erschreckt um und versuchte, die Schere hinter ihrem schmalen Rücken zu verstecken. Da aber eben dieser Rücken der Mutter zugekehrt war, hatte die Maßnahme nicht die erwünschte Wirkung. Philippa hingegen zeigte keinerlei Reaktion. Konzentriert, die Zunge zwischen ihren weißen Milchzähnchen vorgeschoben, schnitt sie ungerührt weiter Vierecke aus einem Blatt Papier aus. Erst als Franka ihrer Tochter den Bogen – oder das, was davon noch übrig war – aus der Hand nahm, protestierte Philippa lauthals:
»Mammii! Gib her! Das ist meins!«
»Wo habt ihr das her? Das ist ein Brief an mich! Was habt ihr damit gemacht? Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Ihr könnt doch nicht einfach meinen Brief zerschneiden!«
An dem entrüsteten Tonfall ihrer Mutter merkte sogar Philippa, dass nun Vorsicht angebracht war. Sie verstummte. Aber nur kurz. Franka musterte ihre beiden Zwillingstöchter. Valerie sah betreten zu Boden, während Philippa mit zusammengekniffenen Augen den Blick der Mutter zurückgab. Wie sehr sie damit doch ihrem Vater ähnelte!
»Wir machen einen Drohbrief! Dafür muss man Wörter ausschneiden und auf Papier kleben«, erläuterte das Kind dann im gleichen Tonfall, mit dem es mit dem Hund sprach: nachsichtig und geduldig. Anscheinend konnte man weder von Müttern noch von Hunden solche Detailkenntnisse verlangen.
»Und warum könnt ihr dazu nicht eine Werbebroschüre nehmen? Das hier war ein wichtiger Brief. Wie soll ich jetzt herausfinden, was darinstand?«
»Es sind noch alle Buchstaben da«, meinte Valerie besänftigend. »Du musst sie nur wieder richtig hinlegen.«
Resigniert blickte Franka auf die überall im Zimmer verstreuten Papierschnipsel. Ihre Töchter hatten sich wirklich große Mühe gegeben. Mechanisch fing sie an, die Fetzen zusammenzuklauben.
»Für wen ist der Drohbrief denn gedacht? Abgesehen davon könnt ihr ja überhaupt noch gar nicht schreiben. Woher wollt ihr wissen, wie ihr die Buchstaben und Wörter wieder zusammensetzen müsst, nachdem ihr sie ausgeschnitten habt?«
Valerie linste hilfesuchend zu ihrer Schwester hinüber. So weit hatte sie noch gar nicht gedacht. Philippa offensichtlich auch nicht, nur würde sie das nie zugeben. Franka sah deutlich, wie es in ihrem vierjährigen Hirn arbeitete.
»Papa muss uns dabei helfen!«
Strahlend teilte sie ihrer Mutter das Ergebnis ihres Nachsinnens mit.
»Der Drohbrief ist für Frau Holbein«, erklärte Valerie, »weil sie immer über Sindbad schimpft.«
Sie streichelte dabei die Promenadenmischung, die zwischen den beiden Kindern lag und sich vermutlich nicht bewusst war, welcher Aufwand ihretwegen getrieben wurde. Die Streicheleinheiten nahm Sindbad aber dankbar entgegen.
»Ah ja! Und was wollt ihr Frau Holbein androhen, falls sie mit ihrer Schimpferei nicht aufhört?«
Auch darüber waren sich die Kinder offensichtlich noch nicht schlüssig. Valerie half ihrer Mutter die Schnipsel aufzulesen. Das Spiel war zu Ende. Philippa blieb noch sitzen, sie grübelte darüber, ob sie so einfach nachgeben sollte. Aber das Ausschneiden war ziemlich anstrengend gewesen. Außerdem war das mit dem geplanten Drohbrief vielleicht doch nicht ganz so einfach. Die Möglichkeiten, einem erwachsenen Menschen zu drohen, waren für vierjährige Mädchen leider ziemlich begrenzt.
Franka stopfte die Reste des Briefes in den Umschlag zurück. Wenigstens den hatten sie heil gelassen, auch wenn er etwas unsachgemäß aufgerissen war.
»World Science, Statistik und Umfragen« las Franka. Es musste etwas mit der staatlich angeordneten statistischen Erfassung zu tun haben, an der sie, wie alle Erwachsenen in Deutschland und anscheinend auch die Menschen in zahlreichen anderen Ländern der Welt, vor ungefähr einem halben Jahr teilgenommen hatte. Egal, um was es sich handelte, es musste bis heute Abend warten.
»Kommt Kinder! Wir gehen einkaufen.«
Sie deponierte den Umschlag auf ihrem Schreibtisch.
»Ich will ein Kittililly!«
»Ich auch!«
Franka zog den persönlichen Einkauf einer Online-Bestellung vor. So hatte sie Gelegenheit, aus dem Haus zu kommen und andere Menschen zu sehen. Auch waren die Kinder für mindestens eine Stunde beschäftigt. Es war zwar etwas teurer, als wenn sie sich die Waren hätte schicken lassen, da die Routengebühren der Kurz-streckengleiter so immens hoch waren, aber das leistete sich Franka. Sie nahm sogar in Kauf, »Kittilillys« kaufen zu müssen. Warum alle Kinder auf diese extrem hässlichen Plastikfiguren so scharf waren, das würde sie nie verstehen. Nicht nur scheußlich waren die Dinger, sondern dazu auch noch vollkommen nutzlos. Sie eigneten sich eigentlich nur zu einem: zum Wegwerfen. Aber Philippa und Valerie und wohl so ziemlich alle anderen Kinder auf der Welt liebten dieses Spielzeug heiß und innig. Anfangs hatte Franka versucht, die Zwillinge wenigstens dazu zu bewegen, »eine Kittililly« zu sagen, da dieses schauderhafte Geschöpf eindeutig weiblichen Geschlechts war, worauf ja auch der Name hindeutete. Umsonst! Die Kinder in der Fernsehwerbung sagten »ein Kittililly« – und deshalb hieß es auch »ein Kittililly«!
Gefolgt von Sindbad rannten die beiden Mädchen zur Garderobe. Dort versuchte Philippa zwei rechte Schuhe anzuziehen, Valerie zwei linke. Kichernd bemerkten sie ihr Versehen und tauschten die Schuhe aus. Da das so spaßig war, schlüpften sie absichtlich zusammen in einen Ärmel desselben Mantels und versuchten dann, sich eine Mütze über beide Köpfe zu ziehen.
Der Hund trug durch sein aufgeregtes Hin- und Hergewusle einiges zu der Unruhe bei. Aber immerhin bellte er nicht. Das hatte ihm Franka abgewöhnt. Sonst hätte Frau Holbein, die nichts anderes zu tun zu haben schien, als darüber nachzusinnen, wie sie den Hund ihrer Nachbarn loswerden könnte, schon lange Erfolg gehabt. Zur Belohnung durfte Sindbad mit. Im Kurzstreckengleiter hatte er zwischen den beiden Kindern gerade noch Platz.
Victor Reinhardt saß auf dem Sofa und versuchte die Zeitung zu lesen. Das war gar nicht so einfach. Seine Frau hatte sich eng an ihn geschmiegt, ihre angezogenen Beine verdeckten einen Großteil des Displays. Anfangs hatten sie gemeinsam gelesen. Vor jedem Umblättern hatte er gefragt: »Darf ich?« und hatte den Seitenwechsel erst angeklickt, nachdem sie ihre Zustimmung gegeben hatte. Doch bald bemerkte er, wie Frankas Aufmerksamkeit nachließ. Sie war keine besonders enthusiastische Zeitungsleserin.
»Bist du müde?«, fragte Victor teilnahmsvoll.
Er wusste, wie anstrengend die Zwillinge waren. Lange Jahre war Franka davon überzeugt gewesen, niemals zu heiraten und auch keine Kinder bekommen zu wollen. Das Beispiel ihrer Eltern war nicht gerade ermutigend gewesen. Bei jedem Mann, den Franka kennenlernte, suchte sie deshalb systematisch nach Fehlern, und zwar so lange, bis sie genügend gefunden hatte, um die Beziehung zu beenden. Dann war sie Victor begegnet. Natürlich hatte auch Victor Fehler. Doch seltsamerweise liebte sie die genauso, wie sie seine Stärken liebte. Wenn sie Victors Arme um sich spürte, fühlte sie sich vollkommen. Er war der einzige Mensch, der nichts an ihr in Frage stellte. Sie durfte einfach sie selbst sein. Und so, wie sie war, war es gut. Selbst wenn sie wütend war, gab er ihr das Gefühl, einem berechtigten Zorn nachzugeben. Dadurch wurde der ziemlich schnell überflüssig. Victors bloße Nähe wirkte auf sie wie die Sonne auf Sonnenkollektoren: Franka konnte auftanken und ihre Energie kehrte zurück. Die Abende mit ihm zu Hause, wenn die Kinder im Bett waren, liebte sie ganz besonders. Es war auch zu viert nett, und natürlich ebenfalls dann, wenn sie beide mit Freunden zusammen ausgingen. Aber am schönsten war es mit Victor allein, so wie heute Abend.
»Sollen wir den Brief wieder zusammensetzen?«, fragte Victor grinsend und schaltete das Tablet ab. Die Kinder hatten ihm beim Abendbrot von ihrem gescheiterten Vorhaben erzählt. Zu viert hatten sie, unter viel Gelächter, den Text für einen Drohbrief an Frau Holbein entworfen, natürlich nur in Gedanken. Nun nickte Franka. Einen Brief von World Science durfte man wohl nicht einfach ungelesen in den Papierkorb werfen. Schon allein die Tatsache, dass es sich um ein auf Papier gedrucktes Schreiben handelte, war bedeutsam. Nur sehr wichtige Dokumente wurden noch auf diese altmodische Weise übermittelt. Zu unsicher war da der Weg über das Netz.
Der geduldige Victor war für ein derartiges Puzzlespiel bestens geeignet. Sie kippten den Inhalt des Umschlags auf den Esstisch. Eine Weile arbeiteten sie konzentriert. Die Mädchen hatte sich wirklich erstaunliche Mühe gegeben! Doch die Tatsache, dass sie mit der Schere noch nicht so sicher umgehen konnten, erleichterte nun die Aufgabe etwas, da die unfreiwilligen Zacken und Bögen beim Zusammensetzen hilfreich waren. Schließlich lag der Brief wieder lesbar auf dem Tisch:
Ungläubig starrten Franka und Victor auf den Text. Natürlich hatten sie damals gelesen, dass die Umfragen an einer Verlosung teilnahmen. Aber 20 Preise für annähernd 100 Millionen Menschen allein in Deutschland ergab eine Wahrscheinlichkeit von eins zu fünf Millionen. Nun, so gesehen war die Chance, rein rechnerisch betrachtet, höher als bei allen staatlichen Lotterien.
»Ich habe noch nie etwas gewonnen«, stammelte Franka schließlich. Victor umarmte sie.
»Dann wird es ja höchste Zeit! Ich freue mich total für dich. Komm, darauf müssen wir unbedingt anstoßen!«
Er holte aus dem Kühlschrank eine kleine Sektflasche.
»Ich will aber nicht ohne euch los!«, murmelte Franka.
Sie konnte sich nicht so recht freuen. Vierzehn Tage ohne Victor und die Kinder? Seit sie vor fünf Jahren geheiratet hatten, waren sie nie länger als einen Tag getrennt gewesen.
»Aber natürlich willst du das! Futura 3000, das ist ein Traum! So eine Reise kostet mehr als eine halbe Million, selbst wenn wir das Geld hätten – was ja leider nicht zutrifft –, müssten wir uns damit abfinden, dass es eine Warteliste von zehn Jahren gibt! Ich beneide dich!«
»Wenn die Reise übertragbar wäre, würde ich sie dir schenken.«
»Zum Glück ist sie das aber nicht. Ich könnte nämlich nicht widerstehen, das Geschenk anzunehmen und würde mich dann für den Rest meines Lebens als Schweinehund fühlen, weil ich dich um dieses unglaubliche Erlebnis gebracht habe.«
Futura 3000 war ein Zukunftspark. Er nahm die Hälfte der Fläche der ehemaligen Sahara ein. Damals, als die Pläne zum Bau der Anlage bekannt geworden waren, war ein Aufschrei durch die gesamte Welt gegangen. Klimatologen, Biologen, Ärzte, Meteorologen und sämtliche Umweltschützer waren sich einig gewesen: Die Bebauung der Sahara würde dem Weltklima den Garaus machen. Was globale Erwärmung, Verschmutzung der Weltmeere, Abholzung der Urwälder und saurer Regen nicht geschafft hatten, diesmal würde es unausweichlich sein.
Berechnungen wurden angestellt. Die Ergebnisse waren gleichermaßen überzeugend, wenn sie auch zu konträren Prognosen führten: Mal ging man von einer bevorstehenden Eiszeit aus, mal war man sich sicher, sämtliche Kontinente würden im Weltmeer versinken, mal prognostizierte man gewaltige Orkane, die alles Leben von der Erdoberfläche fegten. Manche prophezeiten eine Sintflut, andere eine allumfassende Dürre. Einig waren sich die Experten allerdings in einem: Der Untergang des Planeten Erde war unabwendbar, sollte dieses Projekt realisiert werden. Nun, es war realisiert worden. Hatte ein drohender Weltuntergang schon je ein profitables Geschäft verhindert? Seit zehn Jahren gab es Futura 3000 – und das Weltklima hatte sich kein bisschen verändert.
Allerdings war die Anzahl der Menschen, die Futura 3000 bereits besucht hatten, sehr begrenzt. Zudem gehörten sie alle ausnahmslos zu den Ultras. Ein vierzehntägiger Aufenthalt dort kostete nämlich Unsummen. Dennoch gab es genügend Erlebnishungrige, die bereit waren, dieses Vermögen auszugeben, wovon die langen Wartelisten zeugten. Pro Jahr wurden aber lediglich zehn zweiwöchige Reisen durchgeführt, an denen jeweils nur zweihundert Leute teilnahmen. Es handelte sich um eine Reise in die Zukunft. Außer den wenigen Menschen, die diese Exkursion bereits gemacht hatten, wusste niemand, was auf ihr tatsächlich geboten wurde. Und die Auserwählten schwiegen. Sie waren außer sich vor Begeisterung, aber sie schwiegen. Womit sie natürlich die Neugierde der anderen noch anstachelten. Eine oder einer dieser Glücklichen zu sein, das bedeutete, einer Weltelite anzugehören. Wer konnte da schon widerstehen? Nun, den meisten Menschen blieb gar nichts anderes übrig. Sie hätten sich dieses Vergnügen niemals leisten können. Außer, sie gewannen die Reise. Franka hätte eigentlich vor Freude außer sich sein müssen, aber sie war es nicht. Genaugenommen hatte sie sogar Angst. Abenteuer hatten sie noch nie gereizt. Sie wollte bei ihrem Mann und den Kindern bleiben oder sie wenigstens mitnehmen. Diese Empfindungen waren nun in ihrem Gesicht deutlich zu lesen.
Victor küsste seine Frau zärtlich.
»Du musst den Gedanken in aller Ruhe auf dich wirken lassen. Die Freude kommt noch, glaub mir. Es sind doch nur vierzehn Tage. Du wirst so viel erleben! Die zwei Wochen werden dir wie ein paar Stunden vorkommen. Bevor du Gelegenheit hast, uns zu vermissen, bist du schon wieder zu Hause.«
Und was, wenn sie sich in diesen vierzehn Tagen veränderte? Wenn sie von dieser Reise als eine Andere zurückkehrte? Manche hatten genau das gesagt: »Wir sind andere Menschen geworden.« Sie wollte das nicht. Seit fünf Jahren war sie endlich mit dem Menschen zufrieden, der sie war. Was, wenn dieser neue Mensch sich Victor und Valerie und Philippa entfremdete?
Franka stieß dennoch mit Victor an, trank mit ihm auf ihren Gewinn und versuchte zu lächeln.
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